Zwei-Achsen-Anordnung: Was unser Gehirn formt

Das mensch­liche Gehirn ist entlang zweier Achsen organi­siert. Dieses Prinzip scheint sich durch die Hirnor­ga­ni­sation aller Primaten zu ziehen. Grafik: Valk/ MPI CBS

Zwei-Achsen-Anordnung: Was unser Gehirn formt

Jedes Netzwerk hat seinen Platz im Gehirn. Bislang war jedoch unklar, warum ein Netzwerk sich dort befindet, wo es sich befindet. Wissen­schaftler des Max-Planck-Instituts für Kogni­tions- und Neuro­wis­sen­schaften (MPI CBS) und des Forschungs­zen­trums Jülich (FZJ) haben nun zwei Haupt­achsen definiert, von »hinten« nach »vorn« und von »oben« nach »unten«. Entlang derer sind die Hirnre­gionen genetisch organi­siert und reichen von grund­le­genden Fähig­keiten wie Handlung und Wahrnehmung bis hin zu Regionen, die abstraktes Denken unter­stützen. Weiß man mehr über diese Achsen und ihre Herkunft, versteht man mehr über die Funktion und evolu­tionäre Vergan­genheit der einzelnen Netzwerke.

Die Lage eines Landes auf der Erde sagt viel über sein Klima, seine Nachbar­länder und die Ressourcen aus, die sich dort befinden. Sie bestimmt also, welche Art von Land man in dieser Gegend erwartet.

Dasselbe scheint auch für das Gehirn zu gelten. Jedes Netzwerk befindet sich an einem spezi­ellen Ort, der über seine Funktion und seine Nachbarn bestimmt, aber auch über die Komple­xität der Funktion, die dort verar­beitet wird. Die Regeln, nach denen sich die einzelnen Hirnre­gionen anordnen und in Beziehung zuein­ander treten, waren jedoch bisher kaum verstanden. Wissen­schaftler des Max-Planck-Instituts für Kogni­tions- und Neuro­wis­sen­schaften (MPI CBS) in Leipzig und des Forschungs­zen­trums Jülich haben nun zusammen mit einem inter­na­tio­nalen Forscherteam zwei Achsen entschlüsselt, entlang derer das mensch­liche Gehirn organi­siert ist. Dabei zeigte sich, es sind vor allem genetische Faktoren, die die Lage entlang der Achsen bestimmen.

Die genetisch-evolu­tio­nären Achsen, die die großräumige Organi­sation des Gehirns prägen. A) Die Achsen beim Menschen, entlang derer die genetische Korre­lation der Cortex-Dicke organi­siert ist B) Die Achsen beim Makaken, entlang derer die Cortex-Dicke covariiert. Gleiche Farben in A und B zeigen, dass die Haupt­achse beim Menschen mit der zweiten Achse beim Makaken und die zweite Achse beim Menschen mit der ersten Achse beim Makaken korre­spon­dieren. Regionen mit gleicher Farbe haben ein ähnliches Kovari­anz­muster, ähneln sich als genetisch mehr als Regionen unter­schied­licher Farbe. Grafik: Valk/ MPI CBS

Eine Achse erstreckt sich demnach vom hinteren zum vorderen Stirn­be­reich der Großhirn­rinde, dem Cortex. Daran spiegelt sich eine Hierarchie der Funktionen wider – von grund­le­genden Fähig­keiten wie Sehen und Bewegung bis hin zu abstrakten, hochkom­plexen Fähig­keiten wie Kognition, Gedächtnis und sozialen Fähig­keiten. Senkrecht dazu führt eine zweite Achse von der Hirnober­fläche (dorsal) in die Tiefe des Cortex (ventral). An der Oberfläche finden sich demnach eher Netzwerke, die Raum, Zeit und Bewegung verar­beiten, in der Tiefe eher solche, die sich auf Bedeutung und Motivation fokussieren.

»Inter­es­san­ter­weise stimmt diese vertikale Anordnung mit der seit langem vermu­teten Hypothese des doppelten Ursprungs überein«, sagt Sofie Valk, Forschungs­grup­pen­lei­terin am MPI CBS und am Forschungs­zentrum Jülich sowie Erstau­torin der Studie, die jetzt in Science Advances veröf­fent­licht wurde. Nach dieser Hypothese entwi­ckelte sich die Großhirn­rinde aus zwei verschie­denen Ursprüngen – der Amygdala und dem olfak­to­ri­schen Cortex einer­seits und dem Hippo­campus anderer­seits. Daraus ergaben sich zwei verschiedene Entwick­lungs­linien, die Wellen von weniger zu stärker diffe­ren­zier­teren Bereichen wider­spiegeln. Frühere Studien hatten solche Unter­schei­dungen zwar schon bei nicht­mensch­lichen Primaten und anderen Säuge­tieren gefunden. Die Wissen­schaftler um Valk waren jedoch die ersten, die sie für den mensch­lichen Cortex nachwiesen. Neben der Längs­achse scheint diese senkrechte Achse damit ein zweites wichtiges Organi­sa­ti­ons­prinzip zu sein.

Bestimmt wird diese Zwei-Achsen-Organi­sation wiederum weitgehend durch die genetische Beziehung der Hirnre­gionen zuein­ander, also durch gemeinsame genetische Effekte während der Entstehung. Das Prinzip scheint dabei, so ein weiteres Ergebnis der Studie, evolu­tionär sehr stabil zu sein. Denn der Vergleich mit den Gehirnen von Makaken zeigt ähnliche Achsen. »Für die Gestaltung unseres Gehirns sind also die Evolution und die Gene die entschei­denden Faktoren«, erklärt Valk. »Gleich­zeitig dürfen wir aber nicht vergessen, dass auch die Umwelt eine wichtige Rolle für dessen Ausge­staltung spielt.« In der aktuellen Studie hätten sie sich zwar speziell auf die geneti­schen Effekte konzen­triert. Andere Arbeiten ihres Teams hätten jedoch gezeigt, dass etwa auch Verhal­tens­training die Gehirn­struktur verändern können. Weitere Studien sind nun geplant, um zu verstehen, wie diese verschie­denen Faktoren zusammenwirken.

Die Haupt­achsen der Gehirn­or­ga­ni­sation zu verstehen, ist wie ein Kompass und kann helfen, sich im Gehirn besser zurecht­zu­finden. »Wir können die Entwicklung und Funktion bestimmter Regionen besser verstehen und die Auswir­kungen von Hirnstö­rungen besser beurteilen«, so Valk. Frühere Studien hätten etwa heraus­ge­funden, dass sich die Organi­sa­ti­ons­achsen von Personen mit Autismus-Spektrum-Störung von denen Gesunder unterscheidet.

Unter­sucht haben die Wissen­schaftler diese Zusam­men­hänge auf verschie­denen Ebenen. Zunächst verwen­deten sie eineiige und zweieiige Zwillinge sowie nicht verwandte Personen, um zu model­lieren, wie stark die Organi­sation des Gehirns genetisch bestimmt ist. Sind etwa bestimmte Verwandt­schafts­be­zie­hungen bei eineiigen Zwillingen stärker als bei anderen Geschwistern, ist das vermutlich auf genetische Faktoren zurück­zu­führen. Mithilfe dieser Perso­nen­gruppen ermit­telten sie, wie die Dicke des Cortex innerhalb einer Gruppe mitein­ander korre­lierte. Das lieferte ihnen Infor­ma­tionen darüber, wie die verschie­denen Hirnre­gionen struk­turell und entwick­lungs­ge­schichtlich mitein­ander in Beziehung zuein­ander stehen. Anhand dieser Infor­ma­tionen über die Verwandt­schafts­ver­hält­nisse zwischen verschie­denen Hirnre­gionen berech­neten sie schließlich die Haupt­achsen, entlang derer genetisch ähnliche Hirnstruk­turen organi­siert sind. Zusätzlich dazu verglichen sie die Gehirn­or­ga­ni­sation beim Menschen mit der bei Makaken. Als sie hier ähnliche Achsen fanden, schluss­fol­gerten sie, die Organi­sation ist über die gesamte Prima­ten­evo­lution hinweg konserviert.

Origi­nal­pu­bli­kation:

Sofie L. Valk, Ting Xu, Daniel S. Margulies, Shahrzad Kharabian Masouleh, Casey­Pa­quola, Alexandros Goulas, Peter Kochunov, Jonathan Smallwood, B.T. Thomas Yeo, Boris C. Bernhardt, Simon B. Eickhoff / Shaping Brain Structure: Genetic and phylo­ge­netic axes of macro-scale organization of cortical thickness / Science Advances (2020). DOI: 10.1126/sciadv.abb3417

Textquelle: Verena Müller, Max-Planck-Institut für Kogni­tions- und Neurowissenschaften

Bildquelle: (oben) Das mensch­liche Gehirn ist entlang zweier Achsen organi­siert. Dieses Prinzip scheint sich durch die Hirnor­ga­ni­sation aller Primaten zu ziehen. Grafik: Valk/ MPI CBS

Bildquelle: (unten) Die genetisch-evolu­tio­nären Achsen, die die großräumige Organi­sation des Gehirns prägen. A) Die Achsen beim Menschen, entlang derer die genetische Korre­lation der Cortex-Dicke organi­siert ist B) Die Achsen beim Makaken, entlang derer die Cortex-Dicke covariiert. Gleiche Farben in A und B zeigen, dass die Haupt­achse beim Menschen mit der zweiten Achse beim Makaken und die zweite Achse beim Menschen mit der ersten Achse beim Makaken korre­spon­dieren. Regionen mit gleicher Farbe haben ein ähnliches Kovari­anz­muster, ähneln sich als genetisch mehr als Regionen unter­schied­licher Farbe. Grafik: Valk/ MPI CBS