Schon die Wikinger hatten Pocken

Wikinger-Diorama im Archäo­lo­gi­schen Museum in Stavanger. Foto: Wolfmann, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Schon die Wikinger hatten Pocken

Das Pocken­virus zirku­lierte in Nordeuropa schon im 7. Jahrhundert. Darauf weist die DNA aus Wikin­ger­ske­letten hin, die Forschende der Charité – Univer­si­täts­me­dizin Berlin, der University of Cambridge und der University of Copen­hagen jetzt analy­siert haben. Das Team hat damit erstmals wissen­schaftlich belegt, dass das Pocken­virus Menschen seit mindestens 1.400 Jahren infiziert. Die unerwartete genetische Diver­sität des Virus könnte auch für die Zukunft relevant sein.

Das Vario­la­virus, welches die Pocken verur­sacht, gilt als das tödlichste Virus weltweit: Allein im 20. Jahrhundert starben an der Krankheit 300 bis 500 Millionen Menschen, die Sterb­lich­keitsrate lag bei bis zu 30 Prozent. Das mensch­liche Pocken­virus wurde 1980 nach einer weltweiten Impfkam­pagne für ausge­rottet erklärt. Dennoch gibt es auch heute noch in Zentral- und Westafrika Fälle, in denen das verwandte Affen­po­cken­virus auf den Menschen übergeht – mit vergleich­baren Symptomen, aber gerin­gerer Sterb­lichkeit als bei den Echten Pocken.

Ungeklärt war bisher, wie lange das mensch­liche Pocken­virus vor seiner Ausrottung eigentlich zirku­lierte. Histo­rische Schriften deuten darauf hin, dass es die Pocken bereits vor mehr als 3.000 Jahren gegeben haben könnte. Das bisher älteste Skelett, in dem das Virus genetisch nachge­wiesen werden konnte, war aber nur etwa 360 Jahre alt. »Es gab also eine Diskrepanz von fast 3.000 Jahren zwischen dem, was gemeinhin über die Historie des Pocken­virus angenommen wird, und dem, was man tatsächlich darüber weiß«, erklärt der Bioin­for­ma­tiker Dr. Terry Jones, Leiter einer Arbeits­gruppe am Institut für Virologie am Campus Charité Mitte. Zusammen mit Kollegen des Lundbeck Foundation GeoGe­netics Centre der University of Copen­hagen und der University of Cambridge leitete er die Studie. »Wir haben also versucht, mithilfe moderner moleku­lar­bio­lo­gi­scher Methoden wissen­schaft­liche Belege für die schrift­lichen Hinweise auf ein früheres Auftreten der Pocken zu finden«, sagt Dr. Jones. Der Ansatz war erfolg­reich: Das Team entdeckte das Vario­la­virus in bis zu 1.400 Jahre alten Gebeinen aus Wikinger-Grabstätten in Dänemark, Norwegen, Schweden, Russland und England.

Die Echten Pocken

…werden durch das Vario­la­virus hervor­ge­rufen und durch Tröpf­chen­in­fektion übertragen. Zu den typischen Symptomen gehören Fieber und Bläschen­bildung an der Hautober­fläche. Die Sterb­lichkeit liegt bei bis zu 30 Prozent. Viele der Überle­benden sind ihr Leben lang gezeichnet. Die charak­te­ris­ti­schen Hautver­än­de­rungen hinter­lassen Narben, die Krankheit kann außerdem zu Hörverlust oder Erblindung führen.

Trans­mis­si­ons­elek­tro­nen­mi­kro­sko­pische Aufnahme mensch­licher Pocken­viren (1975). Foto: CDC / Dr. Fred Murphy

Für ihre Analyse unter­suchten die Wissen­schaft­le­rinnen und Wissen­schaftler das Erbgut von fast 1.900 Skeletten, die zwischen 150 und mehr als 30.000 Jahre alt waren und in Europa und Amerika gefunden wurden. In 13 Fällen gelang es ihnen, aus den Zähnen bzw. einem Teil des Schlä­fen­beins der Verstor­benen DNA-Fragmente des mensch­lichen Pocken­virus anzurei­chern. Dass es sich tatsächlich um alte DNA handelte, belegten die spezi­fi­schen Alterungs­schäden an dem Erbma­terial. Elf der Menschen, bei denen das Virus nachge­wiesen werden konnte, hatten zwischen etwa 600 und 1050 n. Chr. gelebt – also auch während der Wikin­gerzeit (793 bis 1066 n. Chr.). »Unsere Studie liefert damit zum ersten Mal einen moleku­lar­bio­lo­gi­schen Beweis dafür, dass bereits die Wikinger vom Pocken­virus infiziert wurden«, sagt die Erstau­torin der Publi­kation Dr. Barbara Mühlemann, Wissen­schaft­lerin des Deutschen Zentrums für Infek­ti­ons­for­schung (DZIF) am Institut für Virologie am Campus Charité Mitte. »Wir konnten so die Diskrepanz zwischen histo­ri­schen Anekdoten und direktem Pocken-Nachweis um etwa 1.000 Jahre reduzieren. Wir halten es aber für wahrscheinlich, dass es noch frühere Infek­tionen gab.«

Die neuen Forschungs­er­geb­nisse wider­sprechen verschie­denen bishe­rigen Annahmen, nach denen die Pocken beispiels­weise erst durch zurück­keh­rende Kreuz­ritter im 11. bis 13. Jahrhundert nach Europa gebracht wurden. »Auf Basis der jetzt nachge­wie­senen Pocken­fälle in Nordeuropa und histo­ri­scher Erzäh­lungen über mutmaß­liche Fälle in Süd- und Westeuropa gehen wir davon aus, dass das Pocken­virus spätestens seit dem Ende der Wikin­gerzeit in Europa weitflächig zirku­lierte«, resümiert Dr. Jones, der ebenfalls DZIF-Wissen­schaftler ist und als Senior Research Associate an der University of Cambridge forscht.

Einige der Proben waren so gut erhalten, dass die Forschenden anhand der extra­hierten Fragmente die komplette Sequenz des Virus-Erbguts am Computer rekon­stru­ieren konnten. Die Analyse der Sequenzen ergab, dass sich das Pocken­virus, das zu Zeiten der Wikinger zirku­lierte, deutlich vom Vario­la­virus des 20. Jahrhun­derts unter­schied – und den Pocken­viren, die heute in Kamelen und Rennmäusen zirku­lieren, mehr ähnelte. Das alte Virus wies ein ganz anderes Muster aktiver und inaktiver Gene auf. »Einige dieser Gene beein­flussen unter anderem die Spezi­fität von Pocken­viren für ihren Wirt«, erklärt Dr. Mühlemann. »Das Aktivi­täts­muster im Pocken­virus der Wikin­gerzeit könnte bedeuten, dass das Virus damals nicht nur den Menschen, sondern auch Tiere befallen konnte.« Wie hoch die Sterb­lichkeit war oder welche Symptome das alte Virus hervorrief, lässt sich aller­dings nicht ableiten – auch wenn die geneti­schen Daten darauf hinweisen, dass das Virus bei den Wikingern auch Fieber hervor­ge­rufen haben könnte.

»Wir hatten nicht mit einer solchen geneti­schen Diver­sität des mensch­lichen Pocken­virus gerechnet, das hat uns wirklich überrascht«, sagt Dr. Jones. »Die Evolution des Pocken­virus ist deutlich komplexer, als wir angenommen haben. Wenn das mensch­liche Pocken­virus in der Vergan­genheit so unter­schied­lichen geneti­schen Pfaden gefolgt ist, könnten sich auch die noch immer zirku­lie­renden Tierpo­cken­viren ähnlich weitge­fä­chert entwi­ckelt haben – mit möglichen Folgen für die Übertragung der Erkrankung vom Tier auf den Menschen. Wir sollten die Tierpo­cken­viren in Zukunft deshalb besser im Blick behalten.«

Origi­nal­pu­bli­kation: Mühlemann B et al. Diverse variola virus (smallpox) strains were widespread in northern Europe in the Viking Age. Science (2020). doi: 10.1126/science.aaw8977

Textquelle: Manuela Zingl, Charité – Univer­si­täts­me­dizin Berlin

Bildquelle: Wikinger-Diorama im Archäo­lo­gi­schen Museum in Stavanger. Foto: Wolfmann, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Bildquelle: Trans­mis­si­ons­elek­tro­nen­mi­kro­sko­pische Aufnahme mensch­licher Pocken­viren (1975). Foto: CDC / Dr. Fred Murphy