Schauen ist nicht gleich Sehen

Ceguera, Fotoquelle: Anemone123, Lizenz: CC0

Schauen ist nicht gleich Sehen

Frühjahr 2020. Die ganze Welt ist von der Corona-Pandemie betroffen. Auch die Tübinger Wissen­schaft­lerin Li Zhaoping, Leiterin der Abteilung für Sensorik und Senso­mo­torik am Max-Planck-Institut für biolo­gische Kyber­netik und Profes­sorin an der Univer­sität Tübingen, hat mit den Auswir­kungen von Lock Down- und Social Distancing-Maßnahmen zu kämpfen. Entgegen aller Hinder­nisse und Schwie­rig­keiten gelingt es ihr jedoch, Positives aus der Corona-Krise zu ziehen. »Die Pandemie hatte auch ihre Vorteile«, sagt sie. »Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich mich ungestört einem bestimmten Thema widmen.«

Das Ergebnis dieser fokus­sierten Arbeit: eine gerade veröf­fent­lichte wissen­schaft­liche Arbeit mit dem Titel »The Flip Tilt Illusion«. Darin beschreibt Zhaoping, wie wir im peripheren Blick unser Gehirn so täuschen können, dass uns ein senkrechter Balken fälsch­li­cher­weise waagrecht erscheint. In ihrem Paper stellt die Forscherin den senkrechten Balken durch ein Paar von überein­ander liegenden Punkten dar.

Um unser Gehirn täuschen zu können, müssen wir wissen, welche rechne­ri­schen oder algorith­mi­schen Abkür­zungen unser Gehirn nimmt, um die Welt visuell wahrzu­nehmen. In diesem Versuchs­aufbau lässt sich das Gehirn aller­dings nur hinters Licht führen, wenn die beiden Punkte verschiedene Farben vorweisen, schwarz und weiß. Sind sie jedoch gleich­farbig, funktio­niert die Illusion nicht – ebenso wenig, wenn die Punkte nicht im peripheren, sondern im zentralen Sichtfeld wahrge­nommen werden. Pikant: künst­liche neuronale Netze, denen gemeinhin »übermensch­liche« Fähig­keiten im Bereich der visuellen Objekt­er­kennung attes­tiert werden, sind nach Aussage der Forscherin ähnlich anfällig für diese Täuschungen.

Algorith­mische Abkür­zungen im Gehirn

Im Gegensatz zu den meisten Illusionen »stolperte« die Wissen­schaft­lerin nicht zufällig über dieses Phänomen, sondern sagte es gewis­ser­maßen voraus, und zwar auf Basis einer Idee, deren theore­ti­sches Fundament sie wiederum durch ihre vor rund 20 Jahren begonnene Forschung legte. Damals wurde die von ihr formu­lierte V1-Salienz­hy­po­these (V1SH) in der neuro­wis­sen­schaft­lichen Community heftig debat­tiert, stellte sie doch einen Bruch zu früheren Ansichten dar, wie das Gehirn seine Aufmerk­samkeit von einem Ort zum anderen verlagert.

V1SH besagt, dass V1, auch als primärer visueller Kortex bezeichnet, die unbewusste oder reflexive Änderung unseres Blick­feldes steuert. Dies war einiger­maßen überra­schend, da V1 im hinteren Teil des Gehirns lokali­siert ist, während das Frontalhirn gemeinhin als der »klügste« Gehirn­ab­schnitt angesehen wird. Das Frontalhirn wäre demnach präde­sti­niert dafür, die schwierige Aufgabe der Aufmerk­sam­keits­steuerung zu übernehmen, welche wiederum beein­flusst, wie wir die Welt wahrnehmen.

Was ist Schauen, was Sehen?

Um diese Theorien und Hypothesen verstehen zu können, müssen zunächst grund­le­gende Begriffe des visuellen Systems definiert werden, etwa »Schauen« und »Sehen«.

Prof. Dr. Zhaoping Li, Foto: Berthold Stein­hilber, Max-Planck-Institut für biolo­gische Kybernetik

Während beide Begriffe umgangs­sprachlich oft beliebig vertauscht werden, sind sie aus wissen­schaft­licher Sicht klar vonein­ander abgegrenzt. »Das Sehver­mögen besteht sowohl aus Schauen als auch aus Sehen. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Vorgänge, die niemals gleich­zeitig auftreten können«, sagt Zhaoping. »Eine Blinde Person etwa kann zwar schauen, aber nicht sehen.«

Schauen ist stets mit Aufmerk­samkeit verbunden. Es erfordert in der Regel eine Kopfbe­wegung und beschreibt die Richtung, in die der Blick eines Menschen gerichtet ist. Schauen bedeutet, diejenige Stelle im peripheren Gesichtsfeld auszu­wählen, zu der die Augen bewegt werden sollen. Dadurch wird die Stelle im zentralen Gesichtsfeld erfasst – und wird »gesehen«. Sehen kommt also stets nach dem Schauen, und ohne Schauen ist umgekehrt kein Sehen möglich.

Zhaoping veran­schau­licht diesen Zusam­menhang an einem Beispiel: »Das zentrale Sehen ist wie durch ein Fernrohr zu blicken. Man kann verse­hentlich einen Vogel entdecken, der sich in den Bäumen versteckt. Aber ohne peripheres Sehen kann man nicht wissen, wohin man das Rohr als nächstes richten muss, um einen zweiten Vogel zu finden«, sagt die Forscherin. Menschen mit einem Glaukom – umgangs­sprachlich als grüner Star bezeichnet – verlieren oft ihr peripheres Sehver­mögen, während eine Makula­de­ge­ne­ration häufig mit dem Verlust des zentralen Sehfeldes einhergeht.

Li Zhaoping leitet die Abteilung für Senso­rische und Senso­mo­to­rische Systeme am Max-Planck-Institut für biolo­gische Kyber­netik seit Oktober 2018. Ihrem Team gehören momentan fünf Forsche­rinnen und Forscher an. In Kürze sollen zwei weitere dazustoßen. Die Rekru­tierung neuer Mitar­bei­tender sei in Zeiten von Corona nicht so einfach, räumt die Wissen­schaft­lerin ein. Sie plant den Aufbau eines inter­dis­zi­plinär arbei­tenden Teams, das ein Problem stets aus den verschie­densten Blick­winkeln betrachten kann. Um das visuelle System zu unter­suchen und Theorien zu überprüfen, setzt Zhaopings Abteilung auf mathe­ma­tische und rechner­ge­stützte Methoden oder führt psycho­lo­gische und neuro­wis­sen­schaft­liche Experi­mente an Nagetieren, Fischen oder freiwil­ligen Proban­dinnen und Probanden durch.

Neben ihrer leitenden Position am Max-Planck-Institut ist sie als Profes­sorin an der Univer­sität Tübingen tätig. »Es ist schön, endlich mein Wissen und auch meine Begeis­terung für die Wissen­schaft an andere Forsche­rinnen und Forscher weiter­geben zu können«, sagt Zhaoping. Ihre Kurse sind dabei bewusst nur auf eine begrenzte Anzahl an Studie­renden ausgelegt, was tiefere Diskus­sionen und intensive Debatten ermög­licht. »Meine Studenten sagen mir, sie bevor­zugen diese Art von Unterricht.«

Von Shanghai, New York und London nach Tübingen

Bevor sie vor etwa eineinhalb Jahren nach Tübingen kam, lebte Zhaoping in Metro­polen wie Shanghai, New York oder zuletzt London. Diese Umstellung war zunächst heraus­for­dernd, sagt sie. »Während ich in London nur über die Straße gehen musste, um ein gutes chine­si­sches Restaurant zu finden, war es in Tübingen ungleich schwerer.« Doch nach einer Weile lernte sie die Vorzüge zu schätzen, die eine kleinere Stadt mit sich bringt: »Tübingen ist eine sehr grüne Stadt. Man ist schnell in der Natur.« Der eher ländliche Charakter lässt sie zudem, sagt sie, nostal­gisch an ihre Kindheit zurück­denken. Von der verbrachte sie zwei Vorschul­jahre in China auf dem Land.

Seit Kurzem beschäf­tigen sich Zhaoping und ihr Team zusätzlich mit dem visuellen System von Fischen – was manchen überra­schen dürfte. »Beim Thema Sehen und Aufmerk­samkeit kommen wohl den wenigsten als erstes Fische in den Sinn. Tatsächlich aber ist die oftmals zufällig anmutende Bewegung von Fischen Ausdruck eines aufmerk­sam­keits­ge­steu­erten Verhaltens«, erklärt Zhaoping. Und aufgrund dieser Tatsache ließen sich Erkennt­nisse, die aus dem mensch­lichen Sehen gelernt wurden, durchaus auf das Sehver­ständnis von Fischen übertragen – und womöglich auch umgekehrt.

Ein weiteres Projekt, an dem die Forscherin seit geraumer Zeit arbeitet, hat dagegen nichts mit Wissen­schaft zu tun. Statt­dessen betrifft es die Verbes­serung ihrer Deutsch­kennt­nisse – das diesem Beitrag zugrun­de­lie­gende Interview wurde auf Englisch durch­ge­führt. Li Zhaoping macht keinen Hehl daraus, dass sie mit ihrem derzei­tigen Niveau nicht zufrieden ist. »Ich bin ein bisschen enttäuscht von mir selbst. Ich dachte, ich könnte in ein paar Monaten Deutsch lernen.« Sie bleibt aber weiterhin optimis­tisch, denn in letzter Zeit habe sie erstmalig ein Gefühl für den Rhythmus der deutschen Sprache entwi­ckelt. »Das nächste Interview«, sagt sie, „kann ich vielleicht schon auf Deutsch geben!«

Origi­nal­pu­bli­kation:

Zhaoping, L. (in press). The flip tilt illusion: visible in peripheral vision as predic­tedby the Central-Peripheral Dichotomy (CPD). i‑Perception.

Textquelle: Tobias Herrmann, Max-Planck-Institut für biolo­gische Kybernetik

Bildquelle: (oben) Ceguera, Fotoquelle: Anemone123, Lizenz: CC0

Bildquelle: (unten) Prof. Dr. Zhaoping Li, Foto: Berthold Stein­hilber, Max-Planck-Institut für biolo­gische Kybernetik