Physische Spur des Kurzzeit-Gedächtnisses?

Physische Spur des Kurzzeit-Gedächtnisses?

Wie können wir uns an die Telefon­nummer erinnern, die wir gerade anrufen wollten? Wie merken wir uns den Inhalt einer Vorlesung oder eines Films? Schon Platon und Aristo­teles fragten, wie Erinne­rungen als Verän­de­rungen im Gehirn gespei­chert werden. In einer neuen Studie fanden Professor Peter Jonas und seine Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria), darunter Erstautor David Vandael, heraus, dass das Kurzzeit­ge­dächtnis durch das Speichern von Neuro­trans­mitter-Vesikel gebildet werden kann. Diese Vesikel-Pools könnten ein »Engramm« sein, eine physische Spur des Gedächt­nisses. Die Studie erscheint im Fachma­gazin Neuron.
Foto eines möglichen Engramms: Ohne Aktivität befinden sich nur wenige Vesikel an der Synapse. Nach einem kurzen Aktivi­täts­aus­bruch docken Vesikel an der Synapse an. Der Pool der Vesikel ist noch Minuten später an der Synapse gespei­chert. Dieser Pool könnte eine physische Spur des Gedächt­nisses, ein »Engramm«, sein. © Jonas Group / IST Austria

Erinne­rungen zu bilden ist unver­zichtbar, um zu lernen und sich Wissen anzueignen. Im 20. Jahrhundert führte Richard Semon die Idee eines »Engramms« ein, einer physi­schen Spur eines Gedächt­nisses: Während ein Tier lernt, werden Infor­ma­tionen in einem Engramm im Gehirn gespei­chert. Später wird diese Infor­mation wieder abgerufen. »Wo sind die Engramme? Das war eine der Fragen, die wir uns stellten«, erklärt Peter Jonas. »Synap­tische Plasti­zität, die Verstärkung der Kommu­ni­kation zwischen Neuronen, erklärt auf subzel­lu­lärer Ebene die Gedächt­nis­bildung. Um das Engramm zu finden, unter­suchten wir deshalb struk­tu­relle Korrelate der synap­ti­schen Plastizität.«

Unerwar­teter Mecha­nismus stärkt die Kommunikation

Für diese Suche unter­suchte David Vandael einzelne Synapsen im Hippo­campus, dem für Lernen und Gedächtnis erfor­der­lichen Gehirn­areal. Unter den vielen Synapsen, die sich im Hippo­campus mit einer Pyrami­den­zelle verbinden, wählte Vandael eine aus und zeichnete auf, was passiert, wenn eine Körner­zelle ein Signal an die Pyrami­den­zelle sendet. »Signale an einzelnen identi­fi­zierten Synapsen aufzu­zeichnen ist essen­ziell. Deshalb haben wir ein nahezu unmög­liches Experiment durch­ge­führt, bei dem wir gleich­zeitig elektrische Signale von einem kleinen präsyn­ap­ti­schen Terminal und seinem postsyn­ap­ti­schen Zielneuron aufzeich­neten. Das ist die perfekte Methode, um die Synapse zu unter­suchen«, veran­schau­licht Vandael.

Vandael fand, dass das Feuern einer Granu­lar­zelle eine Form synap­ti­scher Plasti­zität induziert, die sogenannte post-tetanische Poten­zierung. Diese verstärkt die Kommu­ni­kation zwischen Körner­zelle und Pyrami­den­zelle für mehrere Minuten. Der Mecha­nismus hinter dieser Plasti­zität war jedoch unerwartet: Ausgehend davon, was andere für eine Modell­synapse, den Held’schen Calyx, beobachtete hatten, stellten Vandael und Jonas die Hypothese auf, dass Plasti­zität entsteht, weil Vesikel nach einem Aktivi­täts­aus­bruch mit größerer Wahrschein­lichkeit Neuro­trans­mitter in die Synapse freisetzen würden. Durch diese Freisetzung von Neuro­trans­mittern werden Signale von einer Nerven­zelle zur anderen übertragen. »Wir fanden statt­dessen, dass nach der Aktivität einer Körner­zelle mehr Vesikel mit Neuro­trans­mittern am präsyn­ap­ti­schen Terminal gespei­chert werden«, erklärt Vandael. »Das Feuern induziert Plasti­zität, indem die Zahl an Vesikel in dieser aktiven Zone zunimmt; die Vesikel können einige Minuten lang gespei­chert werden.«

Vesikel-Pools als Engramm für das Kurzzeit-Gedächtnis?

Während des Lernens, wenn also die Körner­zelle aktiv ist, werden Vesikel in diesen Pool in der aktiven Zone gedrängt. Wenn die Aktivität nachlässt, bleiben die Vesikel im Pool. Wird die Aktivität wieder aufge­nommen, sind bereits mehr Vesikel in der aktiven Zone gespei­chert. So kann mehr Neuro­trans­mitter in die Synapse freige­setzt werden. »Das Kurzzeit­ge­dächtnis könnte Aktivität sein, die in Vesikeln gespei­chert wird, welche später freige­setzt werden«, fügt Vandael hinzu.

Am Ende könnte dies eine wichtige Entde­ckung sein, sagt Jonas. »Indem er die biophy­si­ka­li­schen und struk­tu­rellen Kompo­nenten der Plasti­zität analy­sierte, könnte David das Engramm entdeckt haben – wenn wir glauben, dass die synap­tische Plasti­zität dem Lernen zugrunde liegt.« In weiteren Arbeiten versucht die Gruppe derzeit, synap­tische Signale in vivo mit Verhal­tens­än­de­rungen zu korrelieren.

Die neuen Erkennt­nisse tragen dazu bei, unser Verständnis von Lernen und Gedächtnis zu erweitern, sagt Vandael. »Es ist faszi­nierend, sich Gedächtnis als eine Menge von Neuro­trans­mitter-enthal­tenden Quanten vorzu­stellen, und wir denken, dass dies für Forsche­rinnen und Forscher in den Neuro­wis­sen­schaften inspi­rierend sein wird. Wir hoffen, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, einen Teil der ungelösten Fragen über Lernen und Gedächtnis zu beant­worten.« Ein besseres Verständnis davon, wie verschiedene Synapsen funktio­nieren, kann auch helfen zu verstehen, wie sich Krank­heiten auf Synapsen auswirken, fügt Jonas hinzu.

Origi­nal­pu­bli­kation: David Vandael, Carolina Borges-Merjane, Xiaomin Zhang, and Peter Jonas. 2020. Short-term plasticity at hippo­campal mossy fiber synapses is induced by natural activity patterns and associated with vesicle pool engram formation. Neuron. DOI: 10.1016/j.neuron.2020.05.013

Textquelle: Patrick Müller, Institute of Science and Technology Austria