Per Schnellspur gegen den Schmerz

Konfo­kal­mi­kro­sko­pische Aufnahme eines peripheren senso­ri­schen Neurons in Kultur. Marker-Färbungen und Antikörper werden zur Identi­fi­zierung von Neuronen (rot), c‑Fos-Proteinen (grün) und Zellkernen (blau) verwendet. Foto: Fainzilber/WIS

Per Schnellspur gegen den Schmerz

Ein neuer Ansatz für die Behandlung chroni­scher Schmerzen zielt auf ein Molekül ab, das Schmerz­si­gnale in die Zellkerne von Nerven­zellen leitet. Die jüngst in Science erschienene Studie ist das Ergebnis einer Zusam­men­arbeit zwischen Forschenden des Weizmann-Instituts für Wissen­schaften und des MDC.

Rund ein Viertel der Weltbe­völ­kerung leidet irgendwann einmal im Leben an chroni­schen Schmerzen. Anders als bei akutem Schmerz – man denke etwa an das Gefühl, wenn man sich verse­hentlich mit dem Hammer auf den Finger schlägt – haben chronische Schmerzen unter Umständen nicht einmal eine eindeutige Ursache und können uns jahrelang plagen. Zu den Belas­tungen infolge chroni­scher Schmerzen gehören Beein­träch­ti­gungen der psychi­schen und körper­lichen Gesundheit, eine geringere Leistungs­fä­higkeit und Medikamentenabhängigkeit.

Eine neue Studie unter Leitung von Wissen­schaft­le­rInnen des Weizmann-Instituts für Wissen­schaften (WIS) in Rehovot (Israel) empfiehlt einen origi­nellen Thera­pie­ansatz, der die Aktivierung von Genen in den peripheren Nerven­zellen beein­flusst, die bei vielen Formen von chroni­schen Schmerzen eine Rolle spielen. Die Erkennt­nisse dieser Studie wurden heute in Science veröffentlicht.

Schmerz beginnt in den senso­ri­schen Neuronen. Diese schicken Infor­ma­tionen von der Haut an das Zentral­ner­ven­system. Eine Schädigung dieser Neuronen, chronische Verlet­zungen oder Krank­heiten können einen »Kurzschluss« zur Folge haben, sodass die Nerven­zellen konti­nu­ierlich Schmerz­si­gnale aussenden. Professor Mike Fainzilber von der Abteilung für biomo­le­kulare Wissen­schaften am WIS unter­sucht Moleküle, die die biomo­le­ku­laren Infor­ma­ti­ons­über­tra­gungen innerhalb dieser Nerven­zellen regulieren. Diese Moleküle, sogenannte Importine, finden sich in jeder Zelle. Sie erleichtern den Transport zwischen dem Zellkern und dem Zytoplasma, schleusen Moleküle in den Zellkern und aus dem Zellkern heraus und kontrol­lieren somit den Zugang zu den Genen. Eine besondere Bedeutung kommt ihnen in den peripheren Nerven­zellen zu: Diese sind lang und dünn und es kann Stunden dauern, bis molekulare Botschaften von den Nerven­enden zu den Zellkernen gelangen. Einige der von Fainzilber und seinem Team identi­fi­zierten Importine leiten beispiels­weise Infor­ma­tionen über Verlet­zungen an den Zellkörper der Nerven­zelle und lösen dadurch den Heilungs­vorgang aus.

Kontrolle eines Signal­weges, der Schmerzen auslöst

Seit Jahren schon unter­sucht Professor Michael Bader als Leiter der Arbeits­gruppe »Moleku­lar­bio­logie von Hormonen im Herz-Kreis­lauf­system« am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemein­schaft (MDC) die Bedeutung von Importinen im Rahmen eines langfris­tigen Projekts in Zusam­men­arbeit mit dem Institut für Biologie an der Univer­sität Lübeck. »Zu diesem Zweck haben wir Mäuse genetisch so verändert, dass in jeder Linie eines dieser Importine fehlte«, erklärt Bader. Um heraus­zu­finden, welches Importin an chroni­schen neuro­pa­thi­schen Schmerzen beteiligt ist, begannen die Forsche­rInnen unter der Leitung von Dr. Letizia Marvaldi aus der AG Fainzilber damit, verschiedene Mauslinien mit fehlenden Importinen aus Baders Arbeits­gruppe zu unter­suchen. Gefördert wurden die Forschungs­ar­beiten vom Europäi­schen Forschungsrat.

Verhal­tens­ana­lysen dieser verschie­denen Linien zeigten, dass das Importin alpha‑3 als einziges Importin an der Steuerung der Schmerz-Signalwege beteiligt ist. Anschließend versuchte das Team, das Genex­pres­si­ons­muster zu identi­fi­zieren, das mit lang anhal­tenden Schmerzen in peripheren Nerven­zellen in Verbindung gebracht werden kann – und heraus­zu­finden, wie die Aktivität von Importin alpha‑3 damit zusam­men­hängt. Die Wissen­schaft­le­rInnen analy­sierten die unter­schied­lichen Expres­si­ons­muster von normalen Neuronen und Neuronen ohne Importin alpha‑3, so wurde Marvaldi auf c‑Fos aufmerksam, ein Protein, das vom Importin alpha‑3 in den Zellkern geschleust wird. C‑Fos ist ein Transkrip­ti­ons­faktor – ein Molekül, das die Expression zahlreicher Gene erhöht oder senkt. Weitere Experi­mente zeigten, dass sich c‑Fos bei Mäusen mit chroni­schen Schmerzen in den Zellkernen der peripheren Nerven­zellen ansammelt.

Mithilfe spezia­li­sierter Viren wurde das Importin alpha‑3 oder c‑Fos in den peripheren Nerven­zellen der Mäuse deakti­viert oder seine Produktion reduziert. Daraufhin zeigten diese Mäuse im Gegensatz zu den normalen Mäusen eine deutlich verrin­gerte Reaktion auf chronische Schmerz­si­tua­tionen. Weitere Forschungen offen­barten, dass Importin alpha‑3 eine entschei­dende Rolle bei chroni­schen Schmerzen spielt. C‑Fos ist ebenfalls an frühzei­tigen Schmerz­re­ak­tionen beteiligt, doch scheint es in diesen frühen Phasen auf anderem Wege in den Zellkern zu gelangen. Das Blockieren von Importin alpha‑3 könnte also ein geeig­netes Mittel sein, um anhal­tende, chronische Schmerzen zu verhindern.

Ein poten­zi­elles Wirkstoffziel

Im nächsten Schritt wollte das Forschungsteam heraus­finden, wie leicht sich die Ergeb­nisse der Studie auf die klinische Anwendung übertragen lassen. Dafür nutzte es eine spezia­li­sierte Datenbank, die Connec­tivity Map (CMap) des US-ameri­ka­ni­schen Broad Institute in Massa­chu­setts, die Aufschluss über den Zusam­menhang zwischen Medika­menten und Genex­pres­si­ons­mustern gibt. Mithilfe dieser Datenbank gelang es dem Team, rund 30 existie­rende Medika­mente zu identi­fi­zieren, die ihre Wirkung mögli­cher­weise an dem Importin-alpha-3-c-Fos-Signalweg ausüben könnten. Bei fast zwei Dritteln der identi­fi­zierten Präparate war die schmerz­lin­dernde Wirkung bislang unbekannt. Das Team wählte zwei Präparate aus, ein kardio­to­ni­sches Mittel und ein Antibio­tikum. Beide Medika­mente wurden erneut an Mäusen getestet. Und tatsächlich: Die Injektion dieser Präparate konnte bei den Mäusen die neuro­pa­thi­schen Schmerz­sym­ptome lindern.

»Die Präparate, die wir im Rahmen dieser Daten­bank­re­cherche identi­fi­ziert haben, sind eine Art Schnellspur – ein Beweis dafür, dass bereits für andere Leiden zugelassene Medika­mente wahrscheinlich auch zur Behandlung von chroni­schen Schmerzen einge­setzt werden können«, erklärt Marvaldi. »Da diese Präparate nachweislich für den Menschen ungefährlich sind, könnten klinische Versuche zeitnah aufge­nommen werden.«

»Wir sind jetzt in der Lage, nach neuen und besseren Wirkstoff­mo­le­külen zu suchen, die ihre Wirkung exakt an dieser Ereig­nis­kette in den senso­ri­schen Neuronen entfalten«, sagt Fainzilber. »Solche Zielmo­leküle könnten geringere Neben­wir­kungen haben und weniger Abhän­gig­keiten hervor­rufen als aktuelle Therapien, und sie könnten neue Chancen bieten, chronische Schmerzen erträg­licher zu machen.«

Origi­nal­pu­bli­kation:

Letizia Marvaldi et al. (2020): »Importin α3 regulates chronic pain pathways in peripheral sensory neurons«, Science, DOI: 10.1126/science.aaz5875

Textquelle: Christina Anders, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft

Bildquelle: Konfo­kal­mi­kro­sko­pische Aufnahme eines peripheren senso­ri­schen Neurons in Kultur. Marker-Färbungen und Antikörper werden zur Identi­fi­zierung von Neuronen (rot), c‑Fos-Proteinen (grün) und Zellkernen (blau) verwendet. Foto: Fainzilber/WIS