Nerven­zellen lassen andere »mithören«

Am Messplatz für kombi­nierte Elektro­phy­sio­logie und Fluores­zenz­mi­kro­skopie: Dr. Michel Herde (links) und Prof. Dr. Christian Henne­berger im Institut für zelluläre Neuro­wis­sen­schaften der Univer­sität Bonn. Foto: Rolf Müller/UKB

Nerven­zellen lassen andere »mithören«

Wie viele »Mithörer« eine Nerven­zelle im Gehirn hat, wird streng reguliert. Das zeigt eine inter­na­tionale Studie unter Feder­führung des University College London und der Univer­si­täten Bonn, Bordeaux und Milton Keynes (England). In der Umgebung lernender Neuronen werden demnach bestimmte Prozesse in Gang gesetzt, durch die die Signal­über­tragung weniger exklusiv wird. Die Ergeb­nisse sind nun in der Zeitschrift Neuron erschienen.

Wer einem Bekannten in einer belebten Umgebung ein Geheimnis mitteilen möchte, schirmt das Gespräch oft mit der Hand vor etwaigen Lauschern ab. Auch Nerven­zellen im Gehirn kommu­ni­zieren hinter vorge­hal­tener Hand mitein­ander. Wie stark dieser Schutz ist, wird aber je nach Situation streng reguliert. In diese Richtung deuten zumindest die Ergeb­nisse, die das inter­na­tionale Forscherteam nun vorge­stellt hat.

Die Infor­ma­ti­ons­über­tragung zwischen Neuronen erfolgt meist auf chemi­schem Wege: Auf ein elektri­sches Signal hin schüttet die »Sender-Zelle« einen sogenannten Neuro­trans­mitter aus; oft handelt es sich dabei um Glutamat-Moleküle. Diese wandern durch den synap­ti­schen Spalt zur Empfänger-Zelle. Dort docken sie an bestimmte Rezep­toren an und erzeugen dadurch im Empfänger-Neuron eine elektrische Reaktion.

Doch die Nerven­zellen im Gehirn sind sehr dicht gepackt. Es besteht also die Gefahr, dass die Moleküle nicht nur das Neuron erreichen, für das sie bestimmt sind, sondern auch andere Neuronen in der Nachbar­schaft reizen. Hier kommt die »vorge­haltene Hand« ins Spiel: Spezia­li­sierte Zellen im Gehirn, die Astro­zyten, nehmen nämlich das ausge­schüttete Glutamat rasch wieder auf. Auf diesem Wege schirmen sie die Kommu­ni­kation gewis­ser­maßen ab. »Dazu entsenden sie Fortsätze in die Nähe von Synapsen, die sogenannten perisyn­ap­ti­schen Astro­zy­ten­fort­sätze oder PAPs«, erklärt Prof. Dr. Christian Henne­berger vom Institut für zelluläre Neuro­wis­sen­schaften der Univer­sität Bonn.

Molekulare Glutamat-Sauger

PAPs verfügen über spezia­li­sierte Trans­porter, die wie kleine Staub­sauger das Glutamat um die Synapsen entfernen. Wie effektiv dieser Mecha­nismus funktio­niert, wird aber augen­scheinlich streng reguliert: Die Wissen­schaftler lösten durch eine mehrfach wieder­holte elektrische Reizung eine Art »zellu­läres Lernen« aus. Das sorgt dafür, dass die Empfän­ger­zelle langfristig stärker auf die Signale der Sender­zelle anspricht. Experten sprechen auch von »long-term poten­tiation« (LTP).

»Wir konnten nun zeigen, dass sich die PAPs bei diesem Lernprozess zurück­ziehen«, erklärt Prof. Dr. Dmitri Rusakov vom Institute of Neurology am University College London. »So steigt die Wahrschein­lichkeit, dass benach­barte Zellen ebenfalls durch die Glutamat-Ausschüttung angeregt werden.« Die Signal­über­tragung wird also weniger exklusiv – ein Prozess, der auch andere inter­es­sante Beobach­tungen erklären könnte, deren Ursache bislang unklar war: LTP kann zum Beispiel auch nahe Verbin­dungen zwischen anderen Nerven­zellen beein­flussen. »Mögli­cher­weise ist das eine wichtige Voraus­setzung für das Lernen weiterer Inhalte«, vermutet Henneberger.

Große Synapsen sind weniger diskret

An manchen Synapsen scheint die Kommu­ni­kation zudem per se weniger diskret zu sein als an anderen. Das konnte Henne­berger zusammen mit seinem Mitar­beiter Dr. Michel Herde und anderen Wissen­schaftlern in einer vor wenigen Tagen in »Cell Reports« erschie­nenen Studie zeigen. Die Sender­zelle schüttet ihr Glutamat oft in der Nähe bestimmter Struk­turen in den synap­ti­schen Spalt aus, der sogenannten Spines. Das sind winzige Fortsätze der nachge­schal­teten Nerven­zelle. Die PAPs umkleiden diese Spines oft regel­recht fast wie eine Art Handschuh. Je größer ein Spine ist, desto lücken­hafter ist diese Umkleidung jedoch und desto mehr Glutamat kann entkommen. »In der Nachbar­schaft großer und entspre­chend starker Synapsen kommt es daher vermutlich häufiger zur Erregung weiterer Nerven­zellen«, sagt Herde. Mit anderen Worten: Nerven­zellen mit starken synap­ti­schen Verbin­dungen sprechen selten hinter vorge­hal­tener Hand.

Origi­nal­pu­bli­kation:

LTP induction boosts glutamate spillover by driving withdrawal of perisyn­aptic astroglia; Neuron; DOI: https://doi.org/10.1016/j.neuron.2020.08.030

Local efficacy of glutamate uptake decreases with synapse size; Cell Reports; DOI: https://doi.org/10.1016/j.celrep.2020.108182

Textquelle: Johannes Seiler, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Univer­sität Bonn

Bildquelle: Am Messplatz für kombi­nierte Elektro­phy­sio­logie und Fluores­zenz­mi­kro­skopie: Dr. Michel Herde (links) und Prof. Dr. Christian Henne­berger im Institut für zelluläre Neuro­wis­sen­schaften der Univer­sität Bonn. Foto: Rolf Müller/UKB