Die Psyche und Corona: Wie reagiert der Mensch?

Die Psyche und Corona: Wie reagiert der Mensch?

Die Corona-Krise hat Deutschland fest im Griff, die Lage ist ernst. Manche Menschen erkranken schwer durch das Virus, die Zahl der Todes­fälle steigt. Personen in helfenden Berufen, aber auch Mitar­beiter im Super­markt und anderswo arbeiten bis über die Belas­tungs­grenze. Viele Unter­nehmen und Selbst­ständige machen sich Sorgen um ihre Existenz. Alle Menschen müssen lernen, mit den Heraus­for­de­rungen dieser Zeit, wie den Ausgangs­be­schrän­kungen, zu leben. Eine Blitz­um­frage unter mehr als 1.200 Personen, die Prof. Nico Rose von der Inter­na­tional School of Management (ISM) in Dortmund durch­ge­führt hat, bestätigt dieses Bild. Sie legt aber auch nahe, dass viele Menschen im Angesicht der Heraus­for­de­rungen eine Art psychi­sches Wachstum erfahren.

„Aktuell machen sich die Menschen deutlich mehr Sorgen als vor der Krise, sie sind weniger fröhlich und gelassen“, erklärt Rose. „Das ist aller­dings nur ein Blick­winkel auf die Wirklichkeit. Die Menschen bemerken, dass sie mit großen Problemen fertig werden, inves­tieren mehr Energie in enge Bezie­hungen und gewinnen mehr Klarheit zur Frage, was wirklich wichtig ist im Leben.“ Die Ergeb­nisse der Umfrage deuten außerdem darauf hin, dass Menschen mehr Mitgefühl entwi­ckeln und hilfs­be­reiter werden – ein Eindruck, der sich auch durch die enorme Welle an Solida­rität in der Bevöl­kerung und der Wirtschaft bestä­tigen lässt.

„Manche Menschen mögen es als zynisch empfinden, im Angesicht von so viel Leid auch nur über positive Konse­quenzen nachzu­denken“, fügt der Wirtschafts­psy­chologe hinzu. „Anderer­seits ist das eine der großar­tigen Seiten der mensch­lichen Existenz: Wir können in und an Krisen wachsen. Unter den richtigen Umständen bringen sie das Beste in uns hervor – und auch das Beste zwischen den Menschen und in der Gesell­schaft an sich.“ Das Phänomen ist übrigens eher die Regel als die Ausnahme: Etwa 70 Prozent der Personen in der Studie beobachten bei sich mindestens ein paar Anzeichen von Wachstum, lediglich bei 30 Prozent ist das aktuell nicht der Fall.

What went well? Dankbarkeit als Schlüssel

Frauen berichten von deutlich mehr psychi­schem Wachstum, obwohl sie im Mittel aktuell auch mehr negative und weniger positive Emotionen empfinden. Es gibt aller­dings eine gravie­rende Ausnahme: Sie geben zu Protokoll, dass sie seit dem Beginn der Krise deutlich mehr Dankbarkeit spüren. Für Männer trifft dies auch zu, aber nicht im gleichen Maße. Das Empfinden von mehr Dankbarkeit wiederum ist mit weitem Abstand jener Faktor, der das Erleben von Wachstum und resili­entem Verhalten am besten vorhersagt.

„Wir wissen schon länger, dass Dankbarkeit ein wichtiger Schlüssel zur Überwindung von Krisen ist“, erläutert Nico Rose. „Manche Menschen schaffen es, immer wieder ganz bewusst den Blick auf das zu richten, was ‚trotzdem gut‘ ist: die stärkenden Bezie­hungen im Leben, die Unter­stützung, die man erhält, die kleinen und großen Heraus­for­de­rungen, die man – trotz allem – konti­nu­ierlich meistert.“ Ein solcher Blick­winkel lässt sich übrigens kulti­vieren. Entspre­chende Konzepte sind Teil von manchen Spiel­arten der Psycho­the­rapie, beispiels­weise zur Behandlung von Depressionen.

Das Erleben von psychi­schem Wachstum in der Corona-Krise hängt auch mit weiteren Faktoren zusammen, unter anderem einigen demogra­phi­schen Aspekten: Menschen mit einem tenden­ziell höheren Einkommen und einer längeren Bildungs­his­torie berichten im Mittel von etwas mehr Anzeichen des Wachstums. Statis­tisch betrachtet steht der Einfluss dieser Faktoren jedoch deutlich hinter dem Kulti­vieren von Dankbarkeit zurück.

Der psycho­lo­gische Hinter­grund: Wohlbe­finden ist mehrdimensional

Die meisten Menschen stellen sich psycho­lo­gi­sches Wohlbe­finden als einfaches Kontinuum vor, sprich: Manchmal geht es uns richtig gut, manchmal schlecht, an vielen Tagen normal gut. Die Daten der vorlie­genden Studie und auch früherer Arbeiten deuten aller­dings darauf hin, dass das tatsäch­liche Erleben vielschich­tiger ist. „Man kann sich die Anwesenheit von psychi­schem Unwohlsein und psychi­schem Wohlbe­finden besser als verwandte, aber unabhängige Dimen­sionen vorstellen – wie in einem Koordi­na­ten­system. Menschen können folglich psycho­lo­gische Einschrän­kungen erfahren (Stress, negative Gefühle etc.) und gleich­zeitig positive Entwick­lungen verspüren (mehr Dankbarkeit, ein Mehr an Klarheit usw.)“, so der Psychologe „Diesem Wachstum in und nach Krisen­zeiten wird außerhalb der Forschung meist zu wenig Beachtung geschenkt.“

Die Studi­en­ergeb­nisse zeigen das mental-emotionale Wachstum seit der Corona-Krise. (ISM)

Hinweise zur Inter­pre­tation der Studie

Die Ergeb­nisse der Studie sollten mit Vorsicht inter­pre­tiert werden. Da die Umfrage über Netzwerke wie Twitter, XING, LinkedIn & Co. erfolgt ist, hat sie trotz der großen Stich­probe nur einen Ausschnitt der Bevöl­kerung erreicht. Sie ist somit nicht reprä­sen­tativ, sondern bildet den tenden­ziell gut ausge­bil­deten und monetär stabilen Teil der deutschen Bevöl­kerung ab. „Menschen mit unter­durch­schnitt­lichen finan­zi­ellen Mitteln hatten unter Umständen nicht im gleichen Maß die techni­schen Möglich­keiten oder die Energie, die Fragen zu beant­worten. Ob jene Personen auch positive Entwick­lungen erfahren haben, konnte hier kaum erfasst werden“, sagt Nico Rose. „Vor diesem Hinter­grund gilt es, derzeit in beson­derem Maße solida­risch mit jenen Menschen zu sein, die – finan­ziell betrachtet – eher ‚am Rand der Gesell­schaft‘ stehen.“

Textquelle: Inter­na­tional School of Management (ISM)

Fotoquelle: Prof. Nico Rose lehrt an der ISM Dortmund Wirtschafts­psy­cho­logie. Foto: privat

Statistik: Die Studi­en­ergeb­nisse zeigen das mental-emotionale Wachstum seit der Corona-Krise. (ISM)