Das Gehirn arbeitet anders als ein PC

Kein Zufall: Der Wechsel zwischen gerin­gerer und stärkerer Reizbarkeit folgt einem bestimmten zeitlichen Muster (blaue Linie). Grafik: Stephani/ MPI CBS

Das Gehirn arbeitet anders als ein PC

Das Gehirn verar­beitet die gleichen Infor­ma­tionen niemals auf die gleiche Art und Weise. Wissen­schaftler am Max-Planck-Institut für Kogni­tions- und Neuro­wis­sen­schaften (MPI CBS) haben heraus­ge­funden, warum das der Fall ist und wie diese Verar­beitung funktio­niert. Eine entschei­dende Rolle spielt dabei ein kriti­scher Zustand.

Raschelnde Blätter, leichter Regen am Fenster, eine leise tickende Uhr – dumpfe Geräusche, knapp oberhalb der Hörschwelle. In einem Moment nehmen wir sie wahr, im nächsten nicht mehr, auch wenn wir oder die Töne sich scheinbar nicht verändert haben. Viele Studien haben gezeigt, dass wir einen eintref­fenden Reiz, etwa ein Ton, ein Bild oder eine Berührung, jeweils anders verar­beiten, selbst wenn der Reiz genau derselbe ist. Der Grund: Wie sehr ein Stimulus die zustän­digen Hirnre­gionen aktiviert, hängt vom momen­tanen Zustand der Netzwerke ab, zu denen diese Regionen gehören. Unklar ist jedoch, was diesen ständig schwan­kenden Zustand der Netzwerke beein­flusst – und ob dieser zufällig entsteht oder einem Rhythmus folgt.

Wissen­schaftler am Max-Planck-Institut für Kogni­tions- und Neuro­wis­sen­schaften (MPI CBS) in Leipzig konnten nun weitere Hinweise zur Beant­wortung dieser Fragen liefern. Sie haben heraus­ge­funden, dass das Gehirn umso stärker auf einen Reiz reagiert, je stärker die Netzwerke in dem Moment angeregt werden können, in dem die Reiz-Infor­mation in die Großhirn­rinde, den Cortex, eintritt. Je nach Zustand sind die Nerven­zellen in diesem Bereich, dem sogenannten primären somato­sen­so­ri­schen Cortex leichter oder schwerer erregbar. Die Erreg­barkeit entscheidet wiederum darüber, wie der Reiz weiter verar­beitet wird. Sie beein­flusst damit bereits am Eingang zur Großhirn­rinde darüber, wie das Gehirn mit einem Reiz umgeht und nicht erst, wie lange angenommen, auf höheren, nachge­schal­teten Ebenen.

»Es gibt immer eine gewisse Aktivität zwischen den Neuronen eines Netzwerks, auch wenn scheinbar keine äußeren Einflüsse auf uns wirken. Das System ist also nie vollkommen inaktiv«, erklärt Tilman Stephani, Doktorand am MPI CBS und Erstautor der Studie, die jetzt im Journal of Neuro­science veröf­fent­licht wurde. Vielmehr erhalten sie ständig Infor­ma­tionen, etwa aus dem Körper­in­neren. Sie wachen über unseren Herzschlag, unsere Verdauung oder unsere Atmung, über unsere Position im Raum und intern erzeugte Gedanken. Die Neuronen sind selbst dann aktiv, wenn sie von jeglichem Input isoliert sind. »Diese internen Prozesse beein­flussen ständig die Erreg­barkeit verschie­dener Hirnnetz­werke«, sagt Stephani. »Deren Dynamik bestimmt die Erreg­barkeit des Systems und damit auch die Reaktion auf einen Reiz.« Das Gehirn scheint demnach nicht wie ein Computer zu funktio­nieren, bei dem die gleichen einge­henden Infor­ma­tionen immer die gleiche Reaktion bedeuten.

Dabei zeigte sich: Wie stark der Cortex erregbar ist, ist nicht dem Zufall überlassen. Der Wechsel zwischen gerin­gerer und stärkerer Reizbarkeit folgt vielmehr einem bestimmten zeitlichen Muster. Der aktuelle Zustand hängt vom vorhe­rigen ab und beein­flusst wiederum den nachfol­genden. Wissen­schaftler sprechen hier von einer langfris­tigen zeitlichen Abhän­gigkeit oder einer langan­hal­tenden Autokorrelation.

»Dass der Cortex so in seiner Erreg­barkeit variiert, deutet darauf hin, dass sich seine Netzwerke nahe an einem sogenannten ‚kriti­schen‘ Zustand befinden«, sagt Stephani. »Sie schwanken stets in einem empfind­lichen Gleich­ge­wicht zwischen Erregung und Hemmung.«

Frühere Studien hatten gezeigt, dass dieser kritische Zustand entscheidend für die Gehirn­funktion sein könnte. Durch ihn können möglichst viele Infor­ma­tionen übertragen und verar­beitet werden. Stephani und Kollegen liefern nun Hinweise darauf, dass dieses Gleich­ge­wicht auch darüber entscheiden könnte, wie das Gehirn Sinnes­ein­flüsse verar­beitet. Es dient vermutlich als Anpas­sungs­me­cha­nismus, um mit der Vielfalt von Infor­ma­tionen zurecht­zu­kommen, die ständig aus der Umwelt eintreffen. Ein einziger Reiz sollte weder das gesamte System auf einmal erregen noch zu schnell wieder verschwinden.

Unklar ist jedoch bislang, was das für die subjektive Wahrnehmung bedeutet. Nimmt eine Person einen Reiz inten­siver wahr, wenn der in einem Moment eintrifft, in dem das Netzwerk stärker erregbar ist und er eine entspre­chend stärkere Reaktion des Gehirns hervorruft? Die Antwort darauf soll nun eine zweite Studie liefern. »Hier können aber auch andere Prozesse eine Rolle spielen«, bemerkt der Neuro­wis­sen­schaftler. »Zum Beispiel die Aufmerk­samkeit.« Lenkt man die auf etwas anderes, kann der eintref­fende, weniger beachtete Einfluss zwar trotzdem eine erste, starke Hirnre­aktion hervor­rufen. Höhere nachge­la­gerte Prozesse im Großhirn können dann jedoch verhindern, dass der bewusst wahrge­nommen wird.

Unter­sucht haben die Wissen­schaftler diese Zusam­men­hänge anhand tausender kleiner aufein­an­der­fol­gender elektri­scher Ströme. Die legten sie an den Unterarm der Teilnehmer an, um den Hauptnerv im Arm anzuregen. Die Stimu­la­tionen führten wiederum 20 Milli­se­kunden später in einem bestimmten Bereich des Gehirns, dem somato­sen­so­ri­schen Cortex, zu einer ersten Reaktion. Anhand der EEG-Muster konnten die Forscher sehen, wie leicht jeder einzelne Stimulus das Gehirn erregte.

Origi­nal­pu­bli­kation: Stephani, T., Water­straat, G., Haufe, S., Curio, G., Villringer, A., Nikulin, V. V. (2020) / Temporal signa­tures of criti­cality in human cortical excita­bility as probed by early somato­sensory responses. Journal of Neuroscience

Textquelle: Verena Müller, Max-Planck-Institut für Kogni­tions- und Neurowissenschaften

Grafik­quelle: Kein Zufall: Der Wechsel zwischen gerin­gerer und stärkerer Reizbarkeit folgt einem bestimmten zeitlichen Muster (blaue Linie). Grafik: Stephani/ MPI CBS